Hagia Sophia – verpasster Friede

Das Oberste Verwaltungsgericht in der Türkei (Danistay) hat den Weg frei gemacht, damit die Hagia Sophia in Istanbul als Moschee genutzt werden kann. Dass dieses Verdikt Teil der politischen Agenda ist, steht ausser Frage. Umstritten ist jedoch, welchen Zweck der Umnutzungsentscheid verfolgt? Manche behaupten, die Regierungspartei möchte damit von innenpolitischen Sackgassen ablenken: Wirtschaftskrise, steigende Arbeitslosigkeit. Dass die ehemaligen Weggefährten Ali Babacan und Ahmet Davutoglu jeweils ihre eigenen Parteien gegründet haben, kommt noch dazu. Andere wiederum sehen in diesem Urteil eine Kampfansage gegen den Westen.

Zurzeit pilgert die konservative Wählerschaft in Scharen nach Istanbul, um in diesem Sakralbau zu beten. Diejenigen, die das nicht können, opfern ein Tier, um ihre Dankbarkeit kund zu tun. Für viele Islamisten ist die Eröffnung der Hagia Sophia als Mosche ein Symbol der Unabhängigkeit und Souveränität. Jedoch wird dadurch keineswegs das Endziel erreicht. Vielmehr läutet deren Eröffnung die Glocken einer neuen Ära ein. Denn seit der Entthronung von Abdulhamid II sei die muslimische Welt gefesselt und könne ihre Zukunft nicht selber bestimmen. Um die Bedeutung der Eröffnung der Hagia Sophia für Islamisten zu verstehen, habe ich einen Abschnitt einer Ansprache von Necip Fazil Kisakürek singemäss übersetzt:

Die Hagia Sophia geschlossen zu halten ist ein Verbrechen, das gleichbedeutend damit ist, Allah zu verfluchen, den Koran zu beschimpfen, die türkische Geschichte in die Grube zu werfen, die türkische Keuschheit zu verschmutzen und das türkische Heimatland zu verkaufen. Jugend! Heute oder morgen weiss ich nicht! Aber die Hagia Sophia wird eröffnet!

Kisakürek hielt diese Ansprache im Jahre 1965. Der türkische Machthaber bezeichnete in einer Rede, dass durch die Eröffnung der Hagia Sophia sein Kindheitstraum verwirklicht wird. Viele Jungislamisten wie er sind mit Hagia-Sophia-Naschids (türk. ilahi) aufgewachsen, welche die Eröffnung der Hagia Sophia zum endgültigen Ziel erklären. Mit diesen Liedern werden junge Menschen auf den Kampf gestimmt und gegen unsichtbare Feinde, die dem Zionismus dienen, mobilisiert. Interessanterweise suggerieren die türkischen Naschids ein Durchhaltevermögen und kein sofortiges unüberlegtes Handeln, weshalb die türkischen Islamisten längerfristig “Erfolg” haben. Durchhaltevermögen, Koalitionsfähigkeit, Maskerade und Zielstrebigkeit gehören zu ihrem Erfolgsrezept.

Es lässt sich fragen, was als nächstes auf der politischen Agenda steht. Ein Aufschluss beschert uns dieselbe Ansprache von Kisakürek. Am Schluss seiner Rede betont er, dass eine Flut, die nicht länger verhindert werden könne, die Hagia Sophia eröffnen werde. Für die islamistischen Kreise hat die Flut nun begonnen. Wer sehen möchte, was als Nächstes kommt, kann einen Blick auf die türkischen Kampf-Naschids werfen, worauf ich an dieser Stelle nicht eingehen möchte.

“Hagia Sophia – verpasster Friede”

Die Hagia Sophia birgt in sich ein enormes Potential für die griechisch-türkische Versöhnung. Dieser Sakralbau wurde zwar als christliche Einrichtung errichtet, dennoch hat er durch die Umnutzung zu einer Moschee an Bedeutung für Muslime gewonnen. Über die Rechtmässigkeit dieses Entscheids kann diskutiert werden, aber dies wird die Tatsache, dass dieses Gebäude jahrhundertelang als eine Moschee genutzt wurde, nicht ändern können. Wer eine Versöhnung anstrebt, sollte die tatsächlichen Gegebenheiten nicht ausser Acht lassen. Deshalb müssten über das Schicksal der Hagia Sophia muslimische und christliche Vertreter gemeinsam entscheiden. Schon der Diskurs über die Zusammensetzung dieses Gremiums wäre eine schwer zu bewältigende Herausforderung. Jedoch ist uns allen bekannt, dass der Friedensprozess kein Zuckerschlecken sein wird.

Dieses Gremium, welches ich vorzugsweise als Istanbuler Rat für religiösen Frieden bezeichne, hätte in der ersten Linie die Aufgabe, über das Schicksal der Hagia Sophia zu bestimmen. Zudem könnte dieser Rat sich mit dem Ziel beschäftigen, Istanbul zur Hauptstadt des religiösen Friedens umzuwandeln. Zwar würde dieser mutige Schritt gleichzeitig den Hass radikaler Kreise auf sich ziehen, aber wer handelt, muss schliesslich mit Reaktionen rechnen. Wer sich für den Frieden einsetzt, kann dem Hass der Reaktionären nicht entkommen.

Nun zu meiner Meinung: Die Hagia Sophia sollte in ein Gotteshaus für Muslime und Christen verwandelt werden. Freitags könnten Muslime ihre Gottesdienste halten und Christen jeweils am Sonntag. Die Inneneinrichtung könnte man auf das notwendigste reduzieren, um die ständige Umnutzung zu vereinfachen. An übrigen Tagen könnte sie als eine Begegnungsstätte aller Weltanschauungen genutzt werden.

Leider wurde das enorme Friedenspotential durch die einseitige Entscheidung des türkischen Staates zunichte gemacht und ein derartige Umnutzung ist in absehbarer Zukunft nicht mehr möglich.

Zum Schluss möchte ich betonen, dass die grösste Errungenschaft der Menschheit der Frieden ist.

Bild von Engin Akyurt auf Pixabay

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