Die Literatur unterscheidet zwischen dem aktiven und dem politischen Widerstand. Der aktive Widerstand ist eine Handlung, die gewaltsam erfolgt oder im «Verborgenen ausgeübt» wird. Das Spektrum des aktiven Widerstandes ist sehr breit. Der passive Widerstand zeichnet sich dagegen dadurch aus, dass er gewaltfrei erfolgt. Der Rücktritt von Beamten, Boykotts auf öffentlichen Strassen, die Besetzung von Baustellen oder die Weigerung des Wehrdienstes können als passiver Widerstand bezeichnet werden.[1]
Ziviler Ungehorsam (eng. civil disobedience) ist eine moderne Form des passiven Widerstands, was wiederum mit dem friedlichen Protest gleichgesetzt wird. Laut John Rawls handelt es sich dabei um eine «öffentliche, gewissensbestimmte, aber gesetzwidrige, politische Handlung, die gewöhnlich eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik herbeiführen soll».[2] Mit anderen Worten versuchen die Organisatoren einer derartigen Aktion, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf ein Unrecht zu lenken. Dabei nehmen sie die Verletzung von gesetzlichen Bestimmungen bewusst in Kauf. Dass ihnen dabei gewisse Sanktionen droht, ist ihnen grösstenteils bekannt. Ein wichtiges Element des zivilen Ungehorsams ist letztendlich die Gewaltlosigkeit.
Mohandas Karamchand Gandhi, der wohl bekannteste Vertreter des zivilen Ungehorsams, unterscheidet zwischen dem aggressiven und dem defensiven zivilen Ungehorsam. Ersterer sei «gewaltfreier, vorsätzlicher Ungehorsam gegenüber Staatsgesetzen». Diese Handlung sei moralisch betrachtet unproblematisch. Als Beispiel nennt er die Missachtung von Steuergesetzen, die an sich keine Gewalt verursacht. Aber damit setze der Aktivist ein wichtiges Zeichen.[3] Der defensive zivile Ungehorsam dagegen sei «unfreiwilliger, zögernder oder widerstrebender gewaltfreier Ungehorsam solchen Gesetzen gegenüber, die an sich schlecht sind und die zu befolgen mit […] der Menschenwürde des Einzelnen unvereinbar wären». Beispielsweise sei die Gründung von «Freiwilligenverbänden für friedliche Zwecke» ein defensiver ziviler Ungehorsam.[4] Daraus kann man folgern, dass Gandhi den zivilen Ungehorsam breit fasst. Vielmehr steht bei diesen Handlungen
Martin Luther King, der fromme Bürgerrechtsaktivist und Verfechter des zivilen Ungehorsams, berief sich bei seinem Engagement auf das Vorhandensein von ungerechten Gesetzen. Dabei zitiert er das folgende Zitat von Augustin: «Ein ungerechtes Gesetz ist kein Gesetz.» Auf die Frage, inwiefern ein Gesetz als ungerecht bezeichnet werden kann, antwortet er mit der folgenden Aussage von Thomas von Aquin: «Jedes Gesetz, das die menschliche Persönlichkeit erniedrigt, ist ungerecht.» Laut King sind Gesetze über die Rassentrennung, weil sie «der Seele und dem Charakter des Menschen Schaden» zufügen, ungerecht. Einem ungerechten Gesetz sei schliesslich der Gehorsam zu verweigern.[5] Damit setzt King das Vorhandensein eines übergeordneten Rechts voraus, was im religiösen Kontext als Gottesrecht und im säkularen als Naturrecht bezeichnet. Das positive Recht (auch “vom Menschen gesetztes Recht” genannt) erhält nach dieser Auffassung Grenzen, wonach die Legislative bei der Gesetzgebung achten muss. Dieser Grundsatz führt jedoch zu einem neuen Diskurs: Wie kann die Rechtssicherheit dabei gewahr werden? Mit dieser Frage befasstE sich Gustav Radbruch.
Das Ende des Zweiten Weltkrieges überlebte Radbruch nur vier Jahre. Ein Jahr nach der Beseitigung des nationalsozialistischen Regimes erarbeitete er eine Formel, welche Radbruch’sche Formel genannt wird. Laut Radbruch spielen die Prinzipien «Gesetz ist Gesetz» und «Befehl ist Befehl» eine wesentliche Rolle im Völkermord, dem sogenannten Holocaust.[6] Deshalb formulierte er einen Grundsatz, wonach in bestimmten Situationen der Widerstand gegen Gesetz bzw. Befehl geboten sei: «Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmässig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Mass erreicht, dass das Gesetz als ‹unrichtiges Recht› der Gerechtigkeit zu weichen hat.» Mit diesen Worten betont Radbruch, dass das positive Recht bis zu einer bestimmten Intensität der Gerechtigkeitsvorstellungen verstossen kann. Aber, wenn dieses Gesetz ein «unerträgliches Mass erreicht», kommt ein überpositives Recht zur Anwendung. Der Verstoss gegen die Gerechtigkeit wird bis zu einem bestimmten Grad der Rechtssicherheit willen geduldet. Was Radbruch mit diesen Worten meint, ist der aktive Widerstand.
[1] vgl. Katzer, Seite 1481ff.; Münkler, Seite 738.; Ballestrem, Seite 67ff.
[2] Rawls, Seite 401.
[3] Ballestrem, Seiten 69f.
[4] Gandhi, Young India, Seite 983.
[5] Gandhi, Young India, Seite 983.
[6] King, Seite 86f.
[7] Radbruch, Seite 106f.
[8] Kley, Geschichte des öffentlichen Rechts der Schweiz, Seite 280.
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