Zu Recht fragt man sich, ob sich die humanitäre Krise vom Jahr 2015 wiederholen wird, wenn man die gegenwärtigen Bilder vor der griechisch-türkischen Grenze sieht. Mittlerweile spricht man von einer humanitären Katastrophe. Was genau dort geschieht, kann man zwar nicht abschliessend beurteilen. Aber eines ist sicher, die türkische Regierung macht ihre Drohung, die Grenzen nach Europa zu öffnen, wahr. Der türkische Präsident verwendet die Masseneinwanderung als eine Art Waffe, um ein Druckmittel gegen europäische Regierungen zu erzeugen.
Es herrscht ein türkischer Konsens über den Entschluss Erdogans. Sowohl bürgerliche als auch linke Kreise organisieren unentgeltliche Büsse, die das Ziel haben, Flüchtlinge zur griechischen Grenze zu transportieren. Schleuser machen offene Werbung vor laufenden Kameras. Dabei schrecken sie sich nicht einmal davor ab, ihre wahren Identitäten preiszugeben. Einer wurde nach öffentlicher Empörung schliesslich verhaftet. Man muss sich die Lage vor Augen führen.
Weshalb Erdogan, die Grenzen öffnet, wird in der europäischen Presse eigehend mit dem Argument erklärt, dass Erdogan die finanzielle Unterstützung der EU auf Staatskasse eingezahlt haben möchte. Ob Erdogan auf dieses Geld angewiesen ist, ist angesichts der andauernden Wirtschaftskrise unumstritten. Aber, dass er sein grösstes Druckmittel dafür einsetzen wird, ist eine andere Frage. Vielmehr mutet sein Verhalten an, dass er von europäischen Ländern Unterstützung für seine syrische Offensive erhalten möchte. Innenpolitisch überzeugte er die türkischen Parteien mit dem Argument, dass die syrischen Flüchtlinge bald nach Hause kehren werden, wenn die Offensive erfolgreich sein sollte. Aber es kam anders. Erneut versuchen Tausende von Syrer in die Türkei zu flüchten.
Darüber, wie sich die Lage entwickeln wird, kann man nur spekulieren. Aber eines ist gewiss: Es wird nicht wie im Jahr 2015 sein. Anders als Tsipras verfolgt der gegenwärtige bürgerliche Ministerpräsident Griechenlands eine strikte Migrationspolitik. Wenn man die Bilder und Videos auf Social Media betrachtet, kommt man zum Schluss, dass die Grenzwächter mit allen Mitteln gegen Flüchtlingen vorgehen werden.
Situation der Flüchtlinge
Der gegenwärtige Bürgerkrieg ist im Jahr 2011 aufgebrochen. Seither sind viele Syrer auf der Flucht. Der Irak, der Libanon und die Türkei beherbergen Millionen von Flüchtlingen. Diejenigen, die nach Europa weitergereist sind, machen nur einen Bruchteil aus. Die meisten blieben in den genannten Ländern, um nach dem Ende des Bürgerkrieges wieder zurückgehen zu können. Aber entgegen aller Prognosen konnte sich der syrische Machthaber Assad seine Macht erhalten. Ein baldiges Ende des Bürgerkriegs ist nicht in Sicht.
Nun hat die Türkei die syrischen Flüchtlinge wissen lassen, dass sie nicht mehr willkommen sind. Aus diesem Grund werden überall in der Türkei unentgeltliche Büsse organisiert, damit sie das Land verlassen können. Ersichtlich ist, dass nur ein kleiner Teil davon Gebrauch macht. Wahrscheinlich wartet man ab, wie sich die Lage entwickelt. Die Bilder an der griechischen Grenze werden höchstwahrscheinlich viele davon abschrecken. Nur noch ein positives Signal aus westlichen Ländern könnte die Massen bewegen. Dies wird wahrscheinlich ausbleiben.
Die syrischen Flüchtlinge haben ihr Heimatland nicht freiwillig verlassen. Die Umstände habe sie dazu bewogen. Sie sind – anders ausgedrückt – keine Wirtschaftsflüchtlinge. Beim Verlassen Ihres Heimatlandes fassten sie sich nicht die europäischen Ländern ins Auge. Sie waren nur auf der Suche nach einem sicheren Hafen. Vorübergehend.
Nun konzentriert man sich nur noch darauf, wie man die syrischen Flüchtlinge von Europa fernhaften kann. Aber unsere humanitäre Tradition gebietet mehr als das. Wir sollten uns mit der Frage auseinandersetzen, wie wir diesen Menschen helfen können.